Alles Was Glänzt
Alles schläft. Nicht die Nacht, der Tag höhlt die Häuser
aus. Tagsüber schwarze, leere Löcher. Manche sind ausgebrannt.
Da hat wer randaliert. Da hat wer die alten Matratzen
verbrannt und jetzt liegen nur mehr Drahtgestelle
herum. Nachts kann man glauben, dass hier Menschen
schlafen, dass hier am nächsten Morgen Menschen aufstehen,
in Autos steigen und zur Arbeit fahren. Aber seit
der Journalist hier war, sind viele in die Stadt gezogen
und Susa vermietet ihre Zimmer dauerhaft zum Nebensaisonpreis.
Man klopft noch immer auf die Plakette am
Boden vor der Kirche: ZUR STADT ERHOBEN 1857, wie
um zu überprüfen, ob sie noch immer da ist, eingelassen
in den Boden. Die Plakette bleibt. Man darf sich offiziell
Stadt nennen. Nur die Katzen bleiben über, wenn es
Abend wird. Sie haben sich das alte Tourismusbüro ausgesucht;
das ist ihr Revier. Sie legen sich in die Regale,
rollen sich eng ein, erbrechen Gras zwischen den Altpapierstapeln.
Sie zerren tote Maulwürfe durch den offenen
Türspalt.
Der rote Knopf im Schaubergwerk funktioniert nicht
mehr und niemand repariert ihn. Wenn man ihn jetzt drückt, gehen die blauen und violetten und weißen Lichter
nicht an, die den Fels bestrahlen, geht die Stimme
nicht an, die die Sage vom Blintelmann erzählt und in der
Höhle ist es immer nur dunkel. Der Bürgermeister sagt:
Wer weiß, ob sich das lohnt. Damit der rote Knopf wieder
funktioniert, damit der Blintelmann wieder spricht und
die Lichter leuchten, müssen alle elektrischen Leitungen
getauscht werden und wer weiß, ob sich das lohnt. Man
muss sich vorstellen, sagt der Bürgermeister: Man tauscht
die Leitungen und dann auf einmal, genau dann, natürlich
genau dann, wird eine tragende Stollenwand gesprengt
oder sie löst sich durch die Erschütterung und ein Stollen
klappt in sich zusammen, in einen anderen Stollen, und
der in einen weiteren Stollen, und das Geröll aller Stollenwände
bricht auf den Ort, die Häuser brechen ineinander,
Staub in Staub, wie der Journalist geschrieben hat, dass es
passieren wird.
Man denkt an die Zeitung damals. Auf dem Titelblatt war
der Umriss des Berges abgebildet, in eine Holzscheibe geritzt,
zersetzt von Nagekäfern. Wie ihn die Kinder in der
Schule früher in die Kartoffeln geschnitzt und auf Tischdecken
gedruckt haben: Auf der einen Seite ein steiler
glatter Hang, auf der anderen führt die Flanke etwas länger
ins Tal, am Fuße des Berges drängen sich Bäume und
Häuser.
Überall Gänge, Löcher. Höhlen.
Stollen und Schächte.
Schon jetzt brechen bei den Sprengungen kleinere
Schächte zusammen, stand in der Zeitung. Schon jetzt
brechen die Böden ein und die Steine rieseln die Etagen
hinunter und wenn es so weitergeht, ist der Berg irgendwann
einfach hohl. Jahrhundertelang grub man von unterschiedlichen
Etagen und Seiten Stollen in den Berg,
man grub einfach drauflos, den Erzspuren hinterher. Erst
im Nachhinein hat man versucht Pläne anzufertigen, aber
zu groß, zu verworren das Netz an Stollen. Immer wieder
neue Abzweigungen, neue Höhlen und Luftlöcher in der
Erde, von denen niemand weiß, zu welchem Schacht sie
gehören.
Ob man von dem Grubenunglück in Lengede gehört hat?
Von der Gasexplosion in dem Bergwerk in Donezk?
Warum sind Chinas Kohlegruben so gefährlich?
Manchmal läuft was im Fernsehen.
Man stellt sich einen großen Knall vor. Oder es passiert
ganz leise. Ein Rauschen, wie eine Welle, die ins Tal
schlägt. Das man zuerst hört, dann sieht.
Ein Rauschen, das man sehen kann!